Es macht schlurf, schlurf.
Träume ich?
Ich schlage meine Augen auf.
Und da ist es wieder, das Geräusch.
Schlurf, schlurf.
Und da sehe ich den Verursacher. Es ist die Schildkröte Kassiopeia. Mein Mitbewohner kämpft sich gerade vorbei an meinen Flip Flops, hinaus in den Morgen, auf die Dachterasse. In einen Morgen, der von Wolken verhangen, und Smog eingehüllt ist. Die schwüle Hitze zwingt mich zum Aufstehen. Es ist 7 Uhr Früh. Ein neuer Tag in Lima. Ein neuer Tag mit Enrique und seinem besten Freund Marco.
Vorgestern bin ich in Lima angekommen. Und habe bereits beschlossen, dass Lima und ich eine Art Hassliebe führen. Eine Hassliebe weil ich hin- und hergerissen bin, ob ich die Stadt als gefährliches Loch sehen soll, dass einen wie ein Strudel hineinzieht, mit all ihren dunklen Ecken, in denen dunkle Gesichter warten. Warten, auf eine Gelegenheit. Illegale Todes-Bussen, in die du hineinhüpfen musst, während sie schon fahren und sich gegenseitig kleine Rennen bieten, um schneller an der nächsten Station zu sein. Schneller bedeutet mehr Fahrgäste, bedeutet mehr Cash. Unfälle und rauchende Autos, die sich häufen, da die Mafia-Banden sich gegenseitig ausstechen wollen. Und Taxis, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass du heile und noch mit all deinen Kreditkarten am Ziel ankommst, 50/50 steht.
MEINE BATTERIEN LASSEN NACH
Alles in allem eine gefährliche Stadt. Eine zwar gefährliche Stadt, die aber trotzdem ihre Verlockungen mit sich bringt. Das ist ein bisschen wie mit Berlin. Ich liebe Berlin auf der einen Seite – aber auf der anderen Seite habe ich immer das Gefühl, dass ich ein klein wenig verbraucht zurück nach Hause fahre. Used.
Ob ich das nun gut oder schlecht finde? Ich kann mich nicht entscheiden. Schauen wir mal, wie die nächsten Tage verlaufen und ob ich hier ungeschoren und noch mit all meinen Sachen die Stadt verlasse 🙂
Ich schwinge meine Beine aus dem Bett.
Und es macht schlurf, schlurf.
Denn meine Energie, die lässt langsam nach. Das Reisen und das Nichtverstehen machen mich müde. Was würde ich dafür geben, nur für einen Tag wieder meine Muttersprache sprechen zu können? Daheim beschwere ich mich immer, dass ich Deutsch so hart finde und der Klang nicht annähernd so schön wie andere Sprachen. Aber jetzt, ganz ehrlich, scheiß ich auf den Klang 🙂
SIGHTSEEING IN EINEM 3. WELT LAND
Trotzdem, heute ist erstmal ein bisschen Sightseeing angesagt. Nachdem die ollen Französinnen gestern die Biege gemacht haben, sind ich und Enrique zu 2. Ach ja, und Marco natürlich. Sie zeigen mir die Uni, auf der Enrique Mathematik studiert.
Wir essen Ceviche, das Nationalgericht, das aus frischem Fisch, Limone, Gemüse und Zwiebeln besteht – und eines der leckersten Dinge ist, die ich je gegessen habe. Obwohl ich Fisch eigentlich nicht leiden kann. Und das alles für umgerechnet 90 Cent. Er zeigt mir das Denkmal von Lima, erzählt mir ein wenig über die Geschichte des Landes und wir spazieren durch die „nicht so ganz“ gefährlichen Viertel der Stadt. In denen ich mit blonden Haaren keine Mütze aufziehen muss.
Irgendwann stoppen wir und machen eine Pause. Ich schaue hinauf in den Himmel und mein Blick fällt auf die Hügel, die sich am Stadtrand von Lima befinden. Hügel, die vollgebaut sind mit Blechhäusern, wo Tür an Tür die Armut herrscht und das Weinen der Kinder durch die Nächte hallt.
IF THERE IS A GOD WHY IS THERE EVIL
Enrique folgt meinem Blick und beginnt zu erzählen:
In Lima leben rund neun Millionen Einwohner. Ungefähr ein Drittel davon unterhalb des Existenzminimums. Ihre Behausungen bestehen aus Schilfmatten, Pappe, Blech, Holz und anderen Materialien. Die Familien leben ohne fließendes Wasser und Toiletten auf engstem Raum zusammen. Über die Hälfte der Menschen sind ohne feste Arbeit.
Für die Kinder und Jugendlichen ist es am Schlimmsten. Denn sie wachsen in einer Umgebung auf, die von Gewalt, Korruption, Alkoholismus und Drogenmissbrauch geprägt ist. Wenn die Kinder erst einmal auf der Straße leben, droht ihnen ein Schicksal als Prostituierte, Diebe, Drogenhändler, bestenfalls als Müllhändler. Ohne Schulbildung bleiben sie ohne Perspektive, versuchen ihrem Leben mit billigen Drogen zu entfliehen, werden kriminell.
Die Zahl der Straßenkinder in Lima wird auf 400.000 geschätzt.
Ich schlucke.
LASST UNS TUN WAS WIR TUN KÖNNEN UND NICHT AUFGEBEN
Irgendwann stockt ihm die Stimme. Und er hört auf zu reden. Ich merke, dass es ihn traurig macht. Ich kann seine Gedanken förmlich hören.
Schlurf, schlurf.
Ich weiß nicht was ich sagen soll. Bin überfordert. Und mein Herz, das ist schwer.
Es macht schlurf, schlurf.
Und da ist es Marco, der die einsame Stille bricht und beginnt zu reden:
Wir fühlen uns machtlos weil wir das Gefühl haben nichts tun zu können. Wir fühlen uns machtlos, weil wir gerade so selber überleben und unser Essen und das Studium bezahlen können. Wir fühlen uns schuldig, weil wir nicht helfen. Aber ich sage euch: Lasst uns nicht Marionetten der Machtlosigkeit werden, lasst uns nicht unser Lachen verlieren und versuchen, das zu tun, was wir tun können und uns möglich ist, um zu helfen. Und das wird genügen. Und lasst uns nicht vergessen, dass wir letztendlich auch nur ein beschissenes Teilchen sind, dass sich mit anderen beschissenen Teilchen zusammensetzt. Zu einem Großen Teil. Zu einem großen beschissenen & einzigartigem Teil im Universum.
ZUSAMMEN HABEN WIR DIE CHANCE GROßES ZU ERREICHEN
Und er lächelt. Ich bin baff. So etwas philosophisch Geistreiches habe ich noch nie aus Marcos Mund gehört. Und so versuche ich seinem Beispiel zu folgen, ziehe Enrique von der Bank hoch und schiebe ihn an. So beginnt sich auch auf seinem Gesicht wieder ein Lächeln auszubreiten und zusammen machen wir uns auf den Weg. Wohin dieser führt, weiß keiner, aber zumindest gehen wir voran. Als ein gemeinsames beschissenes Teilchen.
Und auch wenn ich meine Gedanken an das, was sich da oben in den Hügeln gerade abspielt, nicht abstellen kann, so versuche ich einen Mittelweg zu finden – einen Mittelweg zwischen resignierendem Weltschmerz und dem Gefühl nichts tun zu können und dem Gefühl, dass ich vielleicht doch irgendwie die Welt ein klein bisschen zu einer Besseren machen kann. Ich weiß zwar noch nicht wie und ob das alles mehr ist, als Wunschdenken, aber ich weiß eines:
Du & Ich sind in der Lage, zusammen, von allen Teilen der Welt, diese zu verändern, indem wir gemeinsam für eine Sache eintreten. Mit kleinen Schritten – “un poquito, un poquito”, “Schritt für Schritt”. Klein angefangen, jedoch mit einem großen Gedanken.