Mein Herz rast. Ich höre es förmlich rennen. Mir davon laufen.
Ich habe Angst. Das erste Mal seit Südamerika habe ich so richtige Angst.
Schweiß perlt mir an den Schläfen hinunter. Ich möchte diese doofe Kapuze abziehen, aber das darf ich nicht. Ich drehe mich um. Enrique hinter mir.
Doch wir sind nicht alleine.
15 Stunden zuvor. Ein Samstagmorgen. „Heute Abend gehen wir aus!“, posaunt Enrique stolz, als wir am Frühstückstisch sitzen und ich meine Mango und Butterbrötchen genieße. „Wir gehen aus? Seguro?“, frage ich ihn, denn bisher waren wir noch nie so wirklich aus. Klar, schon mal Abends unterwegs, in einem Restaurant oder der Mall, aber das wars dann auch schon.
Es sei in Lima zu gefährlich, hieß es sonst immer aus Enriques Mund. Vor allem für blonde gringas. Na schön, denke ich bei mir, dann gehen wir heute Abend aus. Ich freue mich! Es ist schon lange her, dass ich mir überlegt habe, was ich am Abend anziehe. Welches Oberteil ich mir aussuche oder den Mascara aus meiner viel zu tiefen Ecke in meinem Backpack hervor zu wühlen.
Also springe ich ein paar Stunden später die Stufen zu meinem Zimmer hinauf, um mir ein geeignetes Outfit für heute Abend zusammen zu suchen. Zur Hölle, das ist ja alles dreckig! Und hat Löcher, denke ich, als ich mein Backpack auf dem gesamten Zimmerboden ausleere. Mierda! Da möchte man einmal im Leben schön aussehen und dann wird mir auch das noch verwehrt 🙂
KLEINES SCHWARZES STATT SCHLABBERPULLI
Eine Stunde später ist es mir allerdings gelungen doch noch etwas Schönes aus meinem Verhau zu zaubern und stehe geduscht und mit getuschten Wimpern abfahrbereit vor Enriques Zimmer. Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich mich auch wieder wie eine Frau. Beim alleine reisen war ich es gewohnt meine weiße Haut so gut es geht zu verstecken, weil mir die Blicke irgendwann einfach zu viel wurden. Also hatte ich meistens Schlabberpulli und Jeans an – aber das hat jetzt ein Ende. Zumindest für diese eine Nacht.
Nachdem wir Marco an der nächsten Kreuzung getroffen haben, machen wir uns zu dritt auf in die Nacht. Ich fühle mich cool. Wie wir drei so nebeneinander herlaufen. Fühle mich ein bisschen wie die drei Musketiere. Fühle mich stark und selbstbewusst.
Nach einer 30-minütigen Metro Fahrt kommen wir an unserem Ziel an und betreten die erste Bar. Und zum ersten Mal seit meiner Ankunft hier in Süamerika bekomme ich ein richtiges Südamerika Feeling. In der Kneipe hängen Bilder von Bob Marley an den Wänden, aus den Boxen höre ich Led Zeppelin und süßlicher Biergeruch macht Lust auf mehr.
FREI & AUSGELASSEN & SUPERCOOL
Ich beginne mich zur Musik zu bewegen. Erst vorsichtig und dann immer ausgelassener. Ich fühle mich ein bisschen wie Daheim in meiner Lieblingsbar. Nur besser. Denn hier ist alles so aufregend: Matrosen sind gerade in die Bar gestürmt und geben für jeden etwas zum Trinken aus. Pisco Sour natürlich, oh je, da werde ich schnell einen kleinen Schwips haben.
Mir kommt es so vor, als ob es ewig her ist, dass ich so ausgelassen Spaß hatte und mich so frei und sicher im gleichen Moment gefühlt habe. Denn hier werde ich nicht angestarrt. Hier werde ich nicht gefragt, ob man mich anfassen dürfe, um zu sehen, ob das weiße Farbe ist. Schon klar, ich bin auch in einer Stadt, hier ist das nicht so eine Seltenheit. Und ich bin froh, gerade keine Seltenheit zu sein.
Zusammen mit Enrique und Marco tanze ich die ganze Nacht und als das Lied „Una rubia en un avion“ kommt, springt die Meute aufgeregt um mich herum, prostet mir zu und bewegt mich zu dem ein oder anderen Tänzchen.
Was kann mir hier schon passieren, denke ich, als wir um 2 Uhr morgens die Bar verlassen. Draußen tümmeln sich noch weitere Tanzwütige. Ich schwitze. In der Bar hatte es gefühlte 100 Grad. Ich setze mich auf eine Bank, drehe mir eine Zigarette. Was für eine herrliche NachT. Der Himmel ist klar, ich sehe die Sterne und ich bin müde und verschwitzt vom Tanzen. Das ist viel zu lange her, denke ich, also Marco und Enrique mit schnellen Schritten auf mich zueilen. „Que passo?“, frage ich, was los sei. „Wir müssen uns beeilen, der letzte Bus in unser Viertel fährt in 10 Minuten! VEN! VEN!“
ÄNGSTLICH & ANGEDUDELT & NICHT MEHR SUPERCOOL
Huch, was ist denn jetzt los? Sonst kenne ich die beiden nicht so stressig. Dann laufen wir halt nach Hause, rufe ich den Beiden hinterher, die mir 3 Schritte voraus sind. Lalle ich? Es fällt mir schwer mit meinen Freunden Schritt zu halten. Antworten tut mir keiner, ich höre sie nur unverständliches Zeug nuscheln. „ENRIQUEEE! Wartet auf mich!“ Rufe ich und in meinem Kopf höre ich immer noch den Beat der Musik.
Den Beat der Musik vergesse ich augenblicklich, als mir der Ernst der Lage klar wird. Enrique erklärt mir, dass wir den Bus verpasst haben, die Metro nicht mehr fährt und wir laufen müssen. Durch eines der gefährlichsten Viertel, es gäbe keine andere Möglichkeit. Mir wird ein wenig flau im Magen. Oder ist das der Pisco Sour? Wieso nehmen wir kein Taxi, frage ich. „Weil du nicht weißt, ob es ein Taxi ist oder die Mafia“, kommt es schroff auf Marcos Mund. Auf einmal fühle ich mich gar nicht mehr so selbstbewusst und sicher. Wir stehen an der Ecke gefährlich vs. gefährlicher, die Gringa dezent angetrunken und dunkle Gestalten, die sich in noch dunkleren Ecken herumdrücken.
„Du ziehst jetzt meinen Pulli an und lässt die Kapuze den ganzen Weg oben! Verstanden?“ Ich nicke, als mir Marco seinen Pulli gibt und ich meine Haare so gut es geht darunter verstecke. Und los! Enrique geht vor, schnellen Schrittes bewegt er sich immer an der Straße entlang, immer da wo Lichter sind. Ich bin in der Mitte, gefolgt von Marco.
DROGEN AUF DEN STRAßEN – SCHÖNE FRAUEN IN DUNKLEN AUTOS
Jetzt wird mir auch klar, warum das Viertel hier nicht ganz koscher ist. Es ist das Prostituierten- und Drogenviertel von Lima. Schöne, riesengroße Frauen mit Highheels, langen Haaren und stark geschminkten Gesichtern beäugen mich misstrauisch. Ich habe hier nichts zu suchen, soll machen, dass ich wegkomme, höre ich sie förmlich denken. Solle nicht so gucken!
Doch ich kann mir das Glotzen nicht verkneifen, denn so etwas habe ich noch nie gesehen. Vielleicht ist es meine Naivität, dass ich immer an das Gute glaube, egal in welch beschissener Lage man sich befindet. Und vielleicht sollte ich lieber machen, dass ich wegkomme, aber meine Neugier ist zu groß.
Neben mir vertickt gerade ein mittelgroßer Mann – oder ist das ein Kind? – weißes Pulver in durchsichtigen, kleinen Tütchen an einen noch kleineren Mann. Und ich nehme an, das ist kein Puderzucker. Eine hübsche rothaarige Frau steigt gerade zu einem nicht so ganz so hübschen Mann ins Auto, ich sehe einen Schein, der auf das Amaturenbrett gelegt wird. Wie viel das wohl ist, denke ich noch in dem Moment, als ich angerempelt werde.
Ein Mann mit dunkler Haut und dreckigem Gesicht ist in mich hineingelaufen – oder ich in ihn? – und beäugt mich mit zwielichtigen Augen. Schlagartig werde ich wach! Er geht mir nicht aus dem Weg. Bleibt einfach stehen und macht keine Anstalten, Platz zu machen. Vielleicht ist das so wie mit den Bären. Ich habe mal gehört, man müsse einfach still bleiben, sie zurückanstarren und still halten. Aber das hier ist kein Bär und wir sind auch nicht im Dschungelbuch.
SICHER & MIT ROTEM KOPF & EINE MORAL WEITER
Mein Herz beginnt zu rasen.
Und in dem Moment, als meine Finger beginnen zu zittern kommt Enrique von hinten, drückt den Mann sanft, aber bestimmt zur Seite, greift unter meinen Arm und schleift mich mit einem Affentempo in die nächste Straße. „Stehenbleiben und Glotzen ist hier nicht! Wir sind nicht in einem Hollywood-Film!“ Ja, verstanden! Und diesmal habe ich wirklich verstanden. Verstanden, dass das hier eine Stadt ist, die für Naivität nicht viel übrig hat. Und dass ich hier nicht hingehöre, genauso wenig wie meine neugierigen Blicke. Denn in Hollywood, da hat Marco Recht, sind wir hier ganz sicher nicht.
15 Minuten später erreichen wir abgehetzt und außer Puste die Straße von Enrique. Endlich! Angekommen! In Sicherheit. Ich drehe mich noch ein letztes Mal um, hinein in die Nacht, die so viele Gefahren mit sich bringt und denke: Lima, du verrücktes Lima!
Und auch wenn ich meine Naivität vielleicht nicht zu 100 Prozent ablegen kann, so habe ich doch etwas gelernt: Schaue einem Men-boy niemals zu lange in die Augen und habe immer einen Kapuzenpulli dabei.