Ich öffne meine Augen. Versuche mich zu orientieren. Ich höre lautes Stimmengewirr. Doch ich verstehe es nicht. Wo bin ich?
Da fällt es mir wieder ein. Ich sitze im Bus. Im Bus nach Lima.
Die verruchte Stadt.
Ich habe wohl die letzten Stunden geschlafen. Eine Kunst, denn der Fernseher läuft mal wieder auf Lautstärke 100. Neben mich hat sich gerade ein Typ gesetzt, ich schätze ihn auf Anfang 20. Ich lächele ihn an. Er lächelt zurück und fragt mich, wie ich heiße. Oh man, auf Unterhaltung habe ich gerade irgendwie gar keine Lust. Scheiseee. Ich bin müde und die letzten Tage mit Jose und Maria haben mich ziemlich angestrengt – habe nur die Hälfte verstanden, da sie immer sehr schnell geredet haben.
Aber unhöflich will ich ja auch nicht sein, also antworte ich brav, und drehe mich dann in Richtung Fenster. Ich hoffe, er hat es verstanden und nimmt es mir nicht übel.
WARUM KOMMEN DIE ZWEIFEL IMMER WIEDER?
Es sind noch ca. 2 Stunden bis nach Lima. Was mich dort wohl erwartet? Die Anderen haben mir erzählt, es seie eine gefährliche Stadt und ich müsse immer gut aufpassen. Mit meinem neuen Freund bei Couchsurfen habe ich vereinbart, dass ich ihn anrufe, sobald ich beim Busbahnhof ankomme. Enrique heißt er. Viel weiß ich nicht über ihn, außer dass er studiert und wohl immer mit seinem besten Kumpel Marco rumhängt. Puuu, ich habe ein bisschen Bammel. Das letzte Mal telefonieren hat nicht besonders gut geklappt, ich hoffe, das wird später besser.
Dass der Bammel auch irgendwie nie aufhört. Ist doch komisch: Wir meistern eine Situation, kommen weiter und wenn wir eine ähnliche Situation erneut erleben, haben wir trotzdem noch Schiss. Mensch Meier, ich mach drei Kreuze wenn ich irgendwann komplett ohne Zweifel und Angst durchs Leben gehe. Ich sage euch Bescheid wenns so weit ist – so in 3 Jahren dann 🙂
Aber nun Schluss mit all dem Gedenke, ich stöpsel mir meine Ohrstecker in die Ohren, und höre die immer gleiche Playlist, dir mir mein Kumpel noch vor meinem Abflug gemacht hat. Wenn ich Glück habe, kommt gleich die gruselige Geschichte von den Drei Fragezeichen mit der Frau ohne Stimme. Im Bann des Vodoo. Bei der Geschichte kann ich groteskerweise immer am schnellsten wegdösen.
SORRI, ABER HAB KEINEN BOCK ZU REDEN
Und genau in dem Moment als die Geschichte beginnt, stupst mich jemand an. Ich öffne die Augen und der Typ neben mir lächelt mir mit einem breiten Grinsen ins Gesicht und bewegt seine Lippen. Ich gestikuliere mit meinen Händen, dass ich ihn nicht verstehe – eigentlich eine total behinderte Geste, ich mache das auch immer wenn ich zahlen will, dann male ich eine Unterschrift in die Luft, und hoffe, dass mich der nette Kellner versteht. Anstatt einfach zu sagen, was ich möchte 🙂 Also nehme ich meine Ohrstöpsel raus und frage ihn was er gesagt hat.
Und so beginnt er zu fragen. Zu fragen wo ich herkomme, was ich hier mache, wo ich Spanisch gelernt habe und noch mehr. Äußerlich bin ich nett und höflich, aber innerlich drehe ich am Rad. Ich habe keine Lust mich zu unterhalten, immer die gleichen Fragen zu beantworten und nett zu grinsen. Ich habe keine Lust mehr zu lächeln, verdammt nochmal. Ich will nur in Ruhe mein Hörspiel hören.
ZUHÖREN BEDEUTET MANCHEN MENSCHEN DIE WELT
Aber sagen kann ich das ja nicht, also versuche ich, ihm zu signalisieren, dass ich seeehr müde bin und leider auch nur más o menos Spanisch spreche. Aber der kapiert das nicht! Au zwick, was ist denn mit dem Kerle los?! Er redet und redet und rückt mir dabei auch immer mehr auf die Pelle. Das Ende vom Lied ist, dass ich nach einer Stunde sein halbes Leben kenne.
Er kommt gerade aus der Army. Er, das ist Daniele, 22 Jahre alt. Wo er stationiert war, habe ich nicht verstanden. Zum Nachfragen zu erschöpft. Er hat seine Familie seit 3 Jahren nicht mehr gesehen. Das ist hart. Und besser macht es die Sache auch nicht, wenn die Weiße grumpy cat spielt und sich ständig zum Fenster dreht.
Also höre ich zu. Ich höre noch weitere 2 Stunden zu, bis wir den Busbahnhof in Lima erreichen. Was ich jetzt mache, fragt mich Daniele. Ich würde meinen Bekannten anrufen, der mich hier abholen will und dann geht’s weiter zu ihm.
SIND FREMDE WIRKLICH FREMDE?
Es sei scheiße gefährlich hier in dem Viertel und dass ich besser den Bahnhof nicht alleine verlassen solle, bläut er mir mit weit aufgerissenen Augen und einem nervösen Unterton ein. Na bravo, das hat mir gerade noch gefehlt. Nicht nur, dass ich Angst habe, dass mein Couchsurfer am Ende nicht auftaucht, jetzt habe ich auch noch Schiss, dass ich abgezogen werde. Also bleibt er neben mir stehen. Er würde warten, bis ich angerufen und abgeholt werde. So einfach ist das. Und basta.
Ich schaue Daniele verdutzt ins Gesicht. Glaube, mein Mund steht offen, denn er fragt mich, ob alles okay seie oder ich einen Schlaganfall habe. Ja na klar, aber er hat seine Familie seit 3 Jahren nicht mehr gesehen und jetzt will er hier mit einer Fremden warten?! Er erwidert, dass das für ihn selbstverständlich sei. Und ich bin keine Fremde. Schließlich saßen wir 15 Stunden gemeinsam nebeneinander im Bus. Er lächelt.
Er lächelt und ich bin gerührt. Gerührt von dieser Nähe und Fürsorge, die mir ein fremder Junge entgegenbringt. Und ich wollte mich nicht mal mit ihm unterhalten.
ZUSAMMEN BIN ICH WENIGER ALLEINE
Klopf, klopf, mein schlechtes Gewissen macht sich breit. Ich erlebe einen Déjà-vu-Moment, denn so ging es mir doch schon mal. Naja vielleicht lerne ich ja irgendwann daraus. Daraus, dass Fremde eigentlich nicht wirklich Fremde sind. Denn sobald wir uns die Zeit nehmen und ein paar Sätze miteinander reden, und auch wenn wir mal so absolut Null Bock haben, kennen wir zumindest schon einen Namen. Und wenn wir uns noch 3 Minuten mehr Zeit nehmen, kennen wir eine Geschichte.
Und so kommt es, dass der Fremde und das Mädchen gemeinsam warten. Sie wartet darauf, klüger zu werden und er wartet vielleicht darauf, den richtigen Zeitpunkt zu finden, um nach Hause zu gehen. Und auch wenn ich vielleicht nicht klüger werde, so werde ich mit Sicherheit eins:
Dankbar. Dankbar, für all die Menschen, die mir meinen Weg leichter machen. Die mit mir gemeinsam sind und meine so gewohnte Welt gehörig auf den Kopf stellen. Meine Denkweise um 360 und noch mehr drehen. Und die mit mir zusammen warten.
Für mich ist es zum Glück noch nicht an der Zeit nach Hause zu gehen. Ich schaue auf und sehe meine 2 neuen Freunde mit großen Schritten auf mich zukommen. Der Eine sieht aus wie Popeye, nur mit langen Haaren und der Andere wie Justin Bieber. Na das kann ja heiter werden, denke ich und ich glaube, das wird der Anfang einer aufregenden Geschichte.
Lima, Baby, mach dich auf was gefasst!