„Excusa, es esta silla libre?“
Hmmm? Bitte was? Neben mir versucht sich eine Frau Platz zu machen und fragt mich, ob der Sitz noch frei ist.
„Si, claro! No hay problema!“
Noch etwas verschlafen reibe ich mir die Augen. Nachdem der Fernseher auf Lautstärke 100 mich die ersten 15 Stunden der Busfahrt wachgehalten hatte, gelang es mir doch irgendwann ein bisschen zu schlafen.
ALLE AUGEN AUF DIE GRINGA
Ich gucke aus dem Fenster und versuche auszumachen wo wir uns momentan befinden.
Was ich sehe ist Wüste. Trockenes Land, Gestein.. Drehe meinen Kopf weiter und huch.. mindestens 4 Leute in diesem Bus, die mich anscheinend interessanter finden als die Landschaft, denn ich werde unverfroren angestarrt. Schüchtern lächele ich, in der Hoffnung, dass sie das Interesse an der Gringa verlieren.
Darunter die Frau neben mir, die irgendwie ein bisschen verrückt aussieht.. Sie fummelt nervös in ihrer Tasche, fährt sich durch die ewig langen Haare und guckt mich neugierig mit ihren großen chilenischen Kulleraugen an.
Ich starre auch gerne fremde Leute an, beobachte und überlege mir Geschichten dazu, aber ich gucke dann auch wieder weg, werde ich dabei ertappt (ist die Frage wer von uns beiden eigentlich die Verrückte ist).
Ja gut, ich bin halt auch die einzige Weiße hier im Bus. Keine Ahnung warum mir das immer passiert, aber irgendwie treffe ich nie andere Backpacker oder Touristen.
Du denkst jetzt wahrscheinlich, dass ich doch froh sein könne, und dass das ja das Schöne ist am Reisen. Da gebe ich dir auch absolut Recht, nur manchmal fühlt es sich auch sehr fremd an und angestarrt zu werden als wäre ich nackt empfinde ich generell als nicht so geil. Es verunsichert mich.
WIE GEHTS NOCHMAL ÜBER DIE GRENZE?
Nun gut, wurscht, erstmal frühstücken und dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Ich packe meine selbstgemachte Stulle aus, trinke einen Schluck des köstlichen lauwarmen Wassers und gehe nochmal meinen Plan durch:
Wenn ich in Arica ankomme, fahre ich am selben Tag noch über die Grenze nach Peru.
So, Ende des Plans 🙂
Ich weiß nämlich weder, wie genau ich über die Grenze komme (Taxis solle man nach meiner Recherche in diversen Reiseforen wohl nicht nehmen, da der Fahrer oftmals kein netter Peruaner ist, sondern ein nicht ganz so netter Mafiosi, der meine Kohle will), noch wie genau ich den Weg zu Jose finde.
Jose ist mein neuer Freund bei Cochsurfen, ein netter junger Mann, geboren und aufgewachsen in Tacna, Peru, der Fußball mag, studiert und gerne mal einen Pisco Sour trinkt. Mehr weiß ich nicht über ihn, aber auf seinem Profil hat er 5 gute Bewertungen, was für mich ausschließt, dass er ein Psychopath, Kidnapper und/oder potentieller Drogenschmuggler ist.
Bei ihm werde ich erstmal 2 Nächte bleiben, bevor meine Reise nach Columbien weitergeht. Geld sparen ist angesagt, deswegen ist Couchsurfen ne prima Sache – außerdem lernt man etwas über Land und Leute.. Hört sich super schön an, ne? Aber eigentlich bin ich nur scharf auf ein kaltes Bier und Gesellschaft 🙂
IN THE MIDDLE OF NOWHERE
RUUUMS. Der Bus stoppt abrupt und reißt mich aus meinen Gedanken. Die ominöse Frau neben mir sagt mir etwas, nur leider so schnell, dass ich nichts verstehe, außer, das wir den Bus verlassen sollen. Nun gut, ich schnalle meinen Rucksack von meinem Bein, schwinge ihn mir über meine Schulter und verlasse mit den anderen Reisenden den Bus.
Mittlerweile ist es 22 Uhr Abends, es ist dunkel, wir befinden uns mitten im Nirgendwo und ganz ehrlich: Finde ich gerade nicht so prickelnd, hier zu stehen. Die Leute strömen in Richtung eines Kiosk und die Anderen bilden eine Meute um den Vorderreifen des Busses.
Oh jeee, das kenne ich schon. Genau so beginnt doch die erste Szene in „Hostel“, oder? Jessas, Maria und Josef, ich gehe mal hin und frage nach, was da abgeht. Gesagt, getan, nur leider verstehe ich wieder nur die Hälfte. „Un pocito más despacio por favor!“ ist mittlerweile mein Standartsatz, was so viel heißt wie: Bitte etwas langsamer sprechen.
Nur irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Leute dann immer das Gegenteil verstehen und noch schneller reden. Und dazu noch wild mit den Händen gestikulieren – hmm, vielleicht versuchen sie mit mir in Pantomime zu kommunizieren. Voll lieb, aber in Tabu war ich noch nie gut.
WER IST EIGENTLICH DIE VERRÜCKTE VON UNS BEIDEN?
Ich drehe mich um und will mich auf den Weg Richtung Toiletten machen, als ich aus Versehen in die Frau neben mir im Bus stoße. „Perdón“, sage ich und lächele sie entschuldigend an. Und in dem Moment lächelt sie zurück und das fremde Verrückte ist gar nicht mehr so verrückt.
Puuu, Schwein gehabt, denke ich bei mir, und trotte weiter. Habe ich mich wohl in ihr getäuscht. Vielleicht ein klein bisschen zu schnell geurteilt und gewertet. Aber vorsichtig bleibe ich trotzdem. Man weiß ja nie.. Oder habe ich einfach zu viele Horror Stories aus dem Internet gelesen?
Nach einer halben Stunde geht die Fahrt weiter. Der Reifen ist wohl geplatzt und musste ausgewechselt werden. Genauso gut kann es aber auch sein, dass der Busfahrer eine kleine Pause wollte – das weiß man hier nie so genau 🙂
Auf dem Weg in den Bus fragt mich die ominöse Frau ob ich schon wisse wie ich über die Grenze komme und wo ich dann schlafe. Warum fragt sie mich das, denke ich bei mir, während ich ihr antworte, dass ich noch keine Ahnung habe wie genau ich über die Grenze komme, aber dann bei einem Bekannten schlafen werde. Ob sie sich mir anschließen könne, fragt sie, denn sie reise ebenfalls sola, und das man ja aufpassen müsse..
SCHAFFEN UNTERSCHIEDE DISTANZ?
Mein Gefühl sagt mir, dass da irgendwas nicht stimmt. Das ich aufpassen muss. Oder ist das nur die Angst, welche sich aus meinem Urteil erschlossen hat. Denn kennen tue ich sie überhaupt nicht.
Das einzige, was ich weiß ist, dass sie wohl ganz gerne andere Leute anstarrt und dabei Fingernägel kaut. Aber ist das so verwerflich? Das macht sie ja nicht gleich zu einer Psychopathin.
Vielleicht bin ich einfach nur verunsichert weil jemand Fremdes mir Gesellschaft anbietet und mit mir zusammen Reisen möchte.
Ich frage mich: Wenn sie ebenfalls ein Backpacker wäre, mit Rucksack auf dem Rücken und dem stets neugierigen und offenen Blick, würde ich dann immer noch so reagieren? Oder würde ich dann das verrückte Fingernägelgekaue, Angestarre als sympathisch empfinden und mich über einen Reisepartner freuen?
Und die Antwort, die ich mir gebe, lässt mich erschrecken.
Wir haben keine äußerlichen Gemeinsamkeiten, keine gemeinsame Baseline, nichts, was uns verbindet. Nur befremdet, denn ich verstehe sie ja nicht. Kann es sein, das ich mir von meinem vorschnellen Urteil über sie bereits eine Meinung gebildet habe? Und dass ich nur, weil sie auf den ersten Blick so anders scheint, verunsichert bin?
MIT DER FREMDEN SEITE AN SEITE
Na bravo, da rede ich von Gleichstellung und dass wir doch alle im selben Boot sitzen und dann unterstelle ich einer unschuldigen Frau eine potentielle Irre zu sein.
Nicht mit mir. So möchte ich nicht sein. Lieber vertraue ich einer fremden Person mehr und fliege von mir aus einmal auf den Allerwertesten, als das ich misstrauisch bin und vorschnell urteile.
Also frage ich sie nach ihrem Namen, was sie denn hier macht und woher genau sie kommt. Smalltalk eben. Und wie sich herausstellt, ist sie eine 3-fache Mutter mit Anfang 30, wohnt in Chile und möchte sich den Machu Picchu ansehen. Ein Kurzurlaub, den ihre Kinder für sie geplant hatten. Denn aus Chile ist sie zuvor noch nie rausgekommen.
Mein schlechtes Gewissen ist just genau so groß wie Pinocchios Nase.
Und weißt du was? Am Ende rettet mir die scheinbare Psychopathin den Arsch, denn gemeinsam mit ihr und ihrer Hilfe gelingt es mir sicher über die Grenze zu kommen und sie war es auch, die Jose für mich vom Busbahnhof angerufen hat, weil ich ihn leider nicht verstanden habe.
Sie war es, die Fremde, die mich gelehrt hat, mir mein Urteil für später aufzuheben oder es im besten Falle einfach ganz zu lassen und nicht aufgrund von Äußerlichkeiten zu werten.
Maria ist übrigens ihr Name. Und was mich mit ihr am Ende des Abends verbindet, sind bestimmt nicht die gleichen Paar Schuhe, die Hautfarbe oder das Sprachverständins. Uns verbindet eine Geschichte. Denn einen kleinen Teil unseres Weges dürfen wir gemeinsam gehen.
Und die Verrückte, die war eigentlich ich.