Eine Familie ist wie ein Kokon, in den du dich zurückziehen kannst, wenn es dir schlecht geht.
Und der dich loslässt wenn es Zeit ist, dass du wieder fliegst.
Ich habe auch so eine Familie. Eine Familie die mich nimmt, so wie ich bin. Die mich fängt, wenn ich falle, mit mir weint wenn ich weine und mit mir lacht wenn ich lache.
Meine Familie, das sind meine Mutter, meine Schwester und meine Freunde. Freunde, die mich nehmen, so wie ich bin und mir manchmal einen Arschtritt verpassen, wenn ich mal over the top schlage. Die mich durch die Türe schubsen, wenn es sein muss und sie mir aufhalten, wenn sie zu schwer ist. Mit denen ich auf die Hochhäuser der Stadt laufe um dann gemeinsam zu springen.
Nur leider befindet sich meine Familie gerade genau 12.533 Kilometer entfernt.
12.533 Kilometer entfernt plus geschätzte 12.533 Tränen, die ich seit gestern vergossen habe, machen mich zu Bridget Jones in ihren besten Tagen.
Sie sind da. Und ich bin hier.
Hier, das ist im Hostel Licanantay, in der Hand augenblicklich eine Klobürste, während ich mir die Andere freihalte um mir die Nase zuzuhalten. Mit dem Badezimmer putzen wechseln Matthieu und ich uns ab. Einer Morgens, der Andere am Abend. Ich schalte meinen Mp3 Player an, und stecke mir meine Ohrstöpsel in die Ohren bevor ich mir die gelben Gummihandschuhe überziehe.
Matthieu guckt aus seinem Zimmer, wie immer ein Hut auf dem Kopf, Tabak in der Hand und lächelt mir aufmunternd zu.
Ein Lächeln, das mir Hoffnung schenkt.
IT’S LIKE TEN THOUSAND SPOONS WHEN ALL U NEED IS A KNIFE
Meine Playlist läuft, und mein Kopf droht davon zu laufen.
Bob Marley singt Redemption Song, und ich fange an zu denken:
6 Monate sind lange. Sehr lange, wie ich so feststelle. Ich hatte es mir leichter vorgestellt. Mein Leichtsinn hat mich ausgetrickst und zeigt mir mindestens 100 Mal am Tag den Stinkefinger, wenn ich mal wieder nichts verstehe. Wenn ich nicht verstehe, was die Anderen zu mir sagen. Daheim verstehe ich immer alles, was die Anderen zu mir sagen. Und dazu bedarf es nicht mal Worte.
Worte können vieles leichter machen, spricht man sie aus. Spricht man sie aber in meinem Falle komplett falsch aus (wieso gibt es im Spanischen ein einziges Wort mit 3 verschiedenen Bedeutungen?!), können sie dich in den Wahnsinn treiben.
Alanis Morisette singt Ironic und ich fange an zu singen:
„It’s like ten thousand spoons when all you need is a knife!“ – ich schreie meine Trauer gegen die Hostelwände, lasse alles raus. Ironic, ja das trifft es gerade echt gut. In dem Moment kommt Pablo um die Kurve, stimmt mit ein, legt einen Arm um mich und gemeinsam singen wir um die Wette.
Gemeinsam, es gibt nichts Schöneres.
SAME SHIT EVERY DAY
Ich streife mir meine Gummihandschuhe ab, räume das Putzzeug auf und gehe in Richtung Rezeption. Neue Gäste sind da, was bedeutet, das ich mein 1A Spanisch auspacke und meinen bereits auswendig gelernten Monolog zum besten gebe:
„Hier ist das Badezimmer, Küche mit Gasherd, hier das Wohnzimmer und nur zu eurer Info: Über der Türe befindet sich eine Überwachungskamera. Diese ist auch Nachts an.“
Den letzten Satz sage ich am liebsten und währenddessen grinse ich vielsagend dem neuen Gast ins Gesicht. Wie alle Backpacker wissen, ist in Mehrbettzimmern keine Privatsphäre vorhanden, und da ist schon mal der ein- oder andere Hostel-Gast mit der neuen Bekanntschaft in das gemütliche Wohnzimmer verschwunden. Dass er danach live auf Video zu sehen war, wusste er natürlich nicht. Dafür aber der Chef des Hostels.
Die Gäste sind glücklich, ich hole mir frische Bettwäsche und beginne die Betten neu zu beziehen.
JESUS CHRIST, ICH VERMISSE MEINE FREUNDE
Led Zeppelin singt Stairway to Heaven und ich fange an zu fühlen:
Menschenskinder, sappralott, das gibt es doch nicht! Das auch immer in den richtigen Scheißmomenten die schön schnulzigen Songs kommen. Zur Hölle mit dieser Playlist! Doch bevor ich sie zur Hölle jagen kann, kommt er schon. Der Kloß im Hals.
Und die Erkenntnis:
Ich vermisse sie. Jesus Christ, ich vermisse sie sehr. Ich vermisse jeden einzelnen meiner Freunde. Ich vermisse mein vertrautes Umfeld, das auch ohne Worte verstehen werden. Ich vermisse es, Freitag Abend in unsere Stammkneipe zu gehen, gemeinsam zu Absolute Beginner zu tanzen, zu singen, die Anderen im Arm zu halten und die Nacht zum Tag zu machen. Ich vermisse es, mit meinem besten Freund den vorherigen Abend zu besprechen, jedes ach so unwichtige Detail und mich dabei komplett wohl und aufgehoben zu fühlen. Ich vermisse das Feierabend-Bier an der Isar und mich dazu mit meiner Freundin über die Männer zu beklagen. Ich vermisse sie. Ich vermisse meine Lieblingsmenschen.
Ich vermisse meinen Kokon.
Und vielleicht vermisse ich mich auch selbst ein Stück. Die Verena, die einen Witz machen kann, ohne davor 5 Minuten zu grübeln, wie das Wort jetzt verdammt nochmal auf Spanisch heißt, um ihn dann zu erzählen, wenn der Moment schon um ist. Und die die lacht, bin dann auch nur noch ich – obwohl, das ist Daheim eigentlich auch nicht groß anders 🙂
MANCHMAL GEBRAUCHT ES KEINE WORTE
Der Song ist aus, ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht, lege die Bettwäsche in den Schrank, höre Gitarrengesang und gehe in das Wohnzimmer. Dort sitzen bereits die Anderen – das sind die Freunde von Pablo und Diana, meine wundertolle Freundin, die ich kennen lernen durfte sowie Matthieu mit seiner Freundin.
Und so schön dieser Moment auch ist, und wie wunderbar sie sind, fühle ich mich nicht dazugehörig. Anders.
Und in dem Moment als ich kehrt machen will und kurz davor stehe, mir meine Schnulzen-Playlist nochmal reinzuziehen, steht Pablo auf und kommt zu mir.
„Verena, adonde vas?“ – Wohin ich gehe, fragt er.
Ich denke: „Ich vermisse meine Familie.“
Ich sage: „Ich gehe ins Zimmer, ein bisschen mit meiner Familie schreiben.“
Er sieht mir an, dass etwas nicht stimmt. Ich sage nicht mehr. Das brauche ich in dem Moment auch nicht.
Er zieht mich in das Wohnzimmer, drückt mir ein Glas Vino tinto in die Hand und sagt:
„Ahora estamos tu familia!“ – jetzt sind wir deine Familie.
Ich denke: „Oh!“
Ich sage: „Oh!“
Und ich lächle. Mein Herz lächelt ebenso und kickt die Trauer mal eben zusammen mit meinem Mp3 Player in die Ecke. Meine eine Familie ist vielleicht 12.533 Kilometer entfernt, aber dafür habe ich hier und jetzt 12.533 Gründe, mich über meine neue Familie zu freuen. Warum nicht über das dankbar und glücklich sein, was sich genau vor meiner Nase befindet?
Estamos familia. Dafür brauche ich keine Übersetzung. Das verstehe ich auch so.
Ich kann dich sooo verstehen, ich bin “nur” 70 km von Zuhause weggezogen, dadurch sehe ich meine Familie nicht mehr wie früher täglich sondern unregelmäßig am We oder wenn mein kleiner Bruder mich übers WE besuchen kommt.
Mein Freund ist ein Teil meiner Familie, auch seine Familie und das macht es alles ein wenig leichter.
Ich wünsche dir noch eine schöne Zeit und viel spaß
Liebe Grüße
Liebe Jessie,
da sind wir ja dann schon mal 2.
Ein Hoch auf das Vermissweh! 🙂
Alles Liebe auch für dich!
Verena
Hallo Verena,
wohin hat es dich denn verschlagen? Nachdem ich von der Isar und dem spanischen Wort mit drei Bedeutungen gelesen hatte, bin ich doch gespannt.
Ich habe auch meine Freunde in der Isar-Stadt und bin gerade zu meiner Langzeitreise aufgebrochen, erst nach Madrid, danach geht es nach Südamerika und ich frage mich gerade auch was ich hier eigentlich mache mit meinen paar Brocken Spanisch…???!!! Schüttel den Kopf und Grinse zugleich. Schaue mich um mich herum um, verstehe fast nur Bahnhof und weiß, dass ich Leute anquatschen muss, da es ansonsten langeweilig wird und eigentlich auch genau das ein Abenteuer von dem gesteckten Plan ist/war.Und ständig herrscht noch der Satz “Ich bin verrückt.” in meinem Kopf, aber mit einem Lächeln. Gruß Marion
Liebe Marion,
wie schön, dass du das alles mit einem Lächeln tust 🙂 Denn auch das ist manchmal gar nicht so easy.
Du wirst dich sicher fantastisch schlagen!
Und das mit den Leute anquatschen stimmt – aber hast du erstmal den ersten Schritt getan, läuft der Rest wie von selber! Ein Tipp aus eigener Erfahrung:
Mit einem Glas vino tinto hast du gleich ne Handvoll neue Bekanntschaften 🙂
Ich wünsche dir eine unvergessliche Reise und haufenweise toller Erfahrungen.
Den Mut hast du im Gepäck ja schon mal dabei 🙂
Alles Liebe.