Wenn du in einem fremden Land bist, dehnt sich alles aus. Jede einzelne Minute fühlt sich an wie eine Ewigkeit.

 

 

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Du kannst Sekunden ziehen wie Kaugummi, saugst alles Fremde in dir auf und läufst mit weit geöffneten Augen durch die Straßen. Immer auf der Suche nach dem einen Moment, den du nie wieder vergessen willst.

Ich recke meine Nase aus dem kleinen Flughafen in Auckland, zuerst etwas zögerlich, vorsichtig tue ich den ersten Atemzug. Mein Herz macht einen Satz. Babam, babam. Ich hebe meinen Fuß, mache den ersten Schritt. Den ersten Schritt auf neuseeländischem Boden. Den ersten Schritt in mein Abenteuer. Babam, babam.

Warum reisen wir? Was veranlasst uns dazu, unsere altbewährte Sicherheit mit dem Backpack auszutauschen? Ich denke, für Jeden ist es ein anderes Reiskorn, ein kleines Teilchen im Universum, dass sich zu einem ganzen zusammenfügt. Für mich bedeutet Reisen Fußabdrücke zu setzen und zu hoffen, dass jemand Anderes diese füllt. Mich in anderen Menschen wiederzufinden. Das zu finden, was ich glaube zu suchen.

Ich sehe den klaren blauen Himmel, spüre den Wind auf meiner Haut und habe zum ersten Mal das Gefühl, richtig zu sein. Genau am richtigen Ort, an genau der richtigen Stelle. Dass meine Suche ein Ende hat. Die Vögel singen eine Melodie, die ich noch nie zuvor gehört habe. Der Wind scheint anders zu wehen. Die Bäume erzählen eine andere Geschichte. Denn sie erzählen meine Geschichte.

Babam, babam.

 

Ich stehe auf dem Gehweg. Bewege mich langsam in Richtung Straßenrand. Hebe meine Hand. Soll ich? Soll ich wirklich? Ja, du sollst. Ich strecke meinen Daumen hoch. Oh je, der hat mich aber komisch angeguckt, Daumen wieder runter. Überlegen. Soll ich das wirklich machen? Alleine trampen? Gedanken rasen. Die Mutter hat davon abgeraten, die Vernunft schreit lass es, der Mut flüstert trau dich. 1,2,3 letzte Chance vorbei. Daumen ist oben! Kribbeln im Bauch. Fühle mich total cool. Cooler als Bridget Jones, selbstbewusst und unerschütterlich. Bin ein Abenteurer. It´s a wild, wild world, summt es in meinem Kopf.

20 Minuten später und gefühlte 100 Autos, die mich unbeachtet am Straßenrand haben stehen lassen, summt es: All by myself. Dont wanna be all by my myself, anymore. Mache mir Sorgen. Es wird dunkel und meine nächste Arbeitsstelle befindet sich knapp 200 Kilometer von hier. Hier, das ist in Rotorua auf der Nordinsel in Neuseeland. Ich schaue nach rechts und sehe Felder. Ich schaue nach links und sehe Schafe. Das ist mit unter das, was Neuseeland ausmacht. Hier gibt es doppelt so viele Schafe wie Einwohner. Ob mich wohl ein Schaf mitnehmen kann? Dumme Idee, Verena.

 

Bilder der letzten 3 Wochen kommen hoch. Sie ziehen an mir vorbei wie ein Filmtrailer. Tag 1: Ankunft in Auckland, Neuseeland. Ich rede fremde Leute im Hostel an, zum ersten Mal in meinem Leben. Schließe Freundschaft. Tanze zu Musik, die ich nicht kenne, verliere mich in wilden Sommernächten. Tag 6: Mutig verlasse ich Freunde und Stadt, ziehe los zu meinem ersten Job auf einer Farm. Waiheke Island. Nichts außer Niemandsland, verdörrte Sträucher, die Hühner krächzen nach Futter, die Bäume biegen sich Nachts im Wind, meine Hütte biegt sich förmlich mit. Die Familie lässt mich am ersten Wochenende alleine. Ich fühle mich nicht wohl. Bekomme Heimweh. Reise am nächsten Tag ab. Tag 14: Ich stehe auf einer Kiwi-Plantage in Tauranga und versuche mich zum ersten Mal im Fruitpicking. Habe die harte Arbeit total unterschätzt. Die Mittagshitze prallt auf mich hinab. Mein Rücken schmerzt vom Bücken. Ich habe noch 8 Stunden Arbeit vor mir. Fühle mich ein bisschen wie ein Abenteurer. Mein Herz schlägt langsam und schwer, ich rieche frisch gemähtes Gras und höre das Tropfen des Wasserhahns aus der Scheune. Tropf, tropf. Mein neues ich hier in Neuseeland beginnt mir zu gefallen. Gefällt mir besser, als mein altes ich daheim.

RUUUMMMPSS, es macht klack, klack und neben mir kommt ein uralter Truck aus dem Jahre 1980 zum Stehen. „Hey ya, Blondie, wanna jump in?“, ruft ein etwa 60-jähriger Farmer aus dem Auto, gefolgt von dem Gebelle eines Hundes auf dem Rücksitz. Besagter Farmer kaut auf irgendwas nicht genau identifizierbarem herum und grinst mich herausfordernd an. Schweiß rinnt seine Schläfen hinunter. Mir rinnt der Schweiß den Rücken hinunter. Ich überlege. Soll ich? Ich soll, sagt die Abenteurerin in mir. Die Vernünftige schweigt für den Moment. Ich schmeiße mein gefühltes 100 Kilo schweres Backpack in den Kofferraum, der mit Kabelbinder, Klebeband und versifften Eimern versehen ist. Keine gute Idee, flüstert die Vernünftige.

„No worries, I´m an engineer“, raunt mir der Unbekannte zu, als ich in sein Auto steige. Kann er etwa Gedanken lesen? Oder ist mir die Angst bereits ins Gesicht geschrieben? „Where do ya wanna go, ey?“, fragt er mich. „Tairua“, erwidere ich schüchtern. Er grinst: „Sweet as, its on my way.“

Sweet as, typisch neuseeländisch, was, nicht wie ich am Anfang dachte, mit meinem Allerwertesten in Verbindung steht, sondern sowas heißt wie: Sehr cool, abgemacht! Hat in den ersten Wochen meiner Ankunft zu leichten Missverständnissen geführt. Ich rieche Patchouli, abgestandenen Zigarettenrauch und nassen Hund. Im Radio läuft Friday, I´m in love. Ich bin auch in love, und zwar in die Idee, heile und noch mit all meinen Gliedmaßen in Tairua anzukommen. „My name is Austin and this is Jane.“ Der Hund bellt. Als ob er zustimmen würde. „Jane Austen – like the famous book writer?“, frage ich neugierig. „Yes, girl, i just love her books. And Jane, the dog, loves them, too.“ Und wieder beginnt Jane aufgeregt zu bellen.

Ich grinse. Fühle mich sicher. Jemand, der Jane Austen Romane liest, kann kein Kettensägenmörder sein. Meine Muskeln beginnen sich zu entspannen und ich sehe aus dem Fenster. Weite Felder, Weinberge und die Dämmerung breiten in mir ein wohliges Gefühl aus. Die Kiwis sind ein ganz besonderes Volk. Auf den ersten Blick scheinen sie manchmal etwas schroff, aber hinter der Fassade sind es die warmherzigsten Menschen, die ich je in meinem Leben getroffen habe. Diese Leichtigkeit, pure Lebensfreude und nicht zu vergessen die riesengroße Hilfsbereitschaft machen sie für mich zu Menschen, die ich nicht mehr missen möchte. Das wird mir daheim fehlen, denke ich.

Nach 3 Stunden Fahrt kommen wir an meinem Ziel an. Als ich Austin frage, ob ich ihm etwas Spritgeld geben darf, verneint er vehement und auch Jane stimmt bellend mit ein. Stattdessen drückt er mir ein selbstgemachtes Erdnussbutter-Marmeladen Sandwich in die Hand und grinst: „Share with the other kids!“. Und bevor ich mich bedanken kann, macht es RRUUUMMMPS, und der Truck fährt mit krachendem Motor und einer Staubwolke davon. Ich blicke ihnen noch ein paar Minuten hinterher und freue mich über diese schöne Begegnung als mir klar wird: Ich bin gerade zum ersten Mal in meinem Leben gehitcht! Ganz alleine! Ich bin stolz. Das hätte ich mich vor 3 Wochen niemals getraut.

Denn eigentlich, ganz eigentlich bin ich ein Mords Schisser.

 

Flashback. Ein Tag im Januar. Es ist 5:15. Ich kann nicht schlafen. Morgen um diese Zeit stehe ich am Flughafen und verlasse meine Heimat für 3 Monate. Nachdem ich herausgefunden habe, dass ich mein Leben so wie es jetzt ist, dezent scheiße finde. Dass ich vielleicht auch mich selbst, von Zeit zu Zeit, dezent scheiße finde. Dass ich etwas ändern möchte. Mich ändern möchte. Aber kann ich das?, denke ich, in dem Moment als mir die Augen zufallen.

Es ist doch so: Es gibt so eine Sorte Mensch und so eine. Die eine Sorte stürzt sich waghalsig in Abenteuer, springt mutig vom 10-Meter Turm und empfindet pure Freude bei der Vorstellung alleine ans andere Ende der Welt zu reisen. Und dann gibt es noch die Andere: Die Sorte, die das mutig sein erst lernen muss, die erst mit etwas Übung aus Batmans Schatten in den Vordergrund tritt. Obwohl du vielleicht als Batman geboren wurdest, übst du dich in der Rolle als Robin. Doch es braucht nur einen Funken, einen kleinen Aussetzer, einen Sprung in deinem Soundsystem, der alles ändern kann.

Und über Nacht wächst du von Robin zu Batman.

 

Ist jetzt dieser Moment?, denke ich. Bin ich da, wo ich sein möchte? RRRIINNG, mein Telefon unterbricht meinen Gedankenfluss. „Hello, Verena, dear, where are you? Im waiting in front of the ice cream shop.“ Das ist Gina, die Frau, bei der ich die nächsten 2 Wochen wooffen werde. Wwoofen, das bedeutet übersetzt: Willing workers on organic farms – was wiederum so viel heißt wie Freiwilligenarbeit für eine bestimmte Zeit und als Austausch bekommst du Essen, Unterkunft und die charmante Gesellschaft der Kiwis. Das mache ich seit meiner Ankunft hier in NZ. Eine günstige Variante, um Geld zu sparen, vor allem, wenn du wie ich, nur 1000 Euro für 3 Monate zur Verfügung hast. Außerdem ist es die beste Möglichkeit, um Land und Leute kennenzulernen und auf die meinerseits erhoffte Liaison mit einem Neuseeländer. Jesus Christ, und wo ist jetzt dieser ice cream shop? Mein Backpack wieder rauf den Rücken geschnallt latsche ich los und versuche in der Dunkelheit unseren Treffpunkt auszumachen. Ich bin müde, ich schwitze und ich glaube, ich könnte ein bisschen was von Austins Patchouli gebrauchen. Nach 3 Wochen Backpacking habe ich mich noch immer nicht an das riesengroße Drum auf meinem Rücken gewöhnt. Woran ich mich aber gewöhnt habe, ist das Gefühl von Freiheit, das sich Tag für Tag mehr in mir ausbreitet. Einfach mal das zu machen, worauf ich wirklich Lust habe. So wirklich, wirklich. Nur ich.

„Cheers, Verena, here you are!“ Gina, mein host, fällt mir liebevoll um den Hals und holt mich zurück in die Realität. Ich bin glücklich sie zu sehen. Sie nimmt mir das Monster von meinem Rücken ab und zusammen fahren wir in ihr Haus, in dem der Rest der Familie auf uns wartet. Lance, ihr Mann, Robin und Dan, die 2 kleinen Jungs, Elaine, das 4-Monate alte Baby sowie noch 3 andere Wwoofa warten im Wohnzimmer auf uns. WOW! Volles Haus, denke ich. Und das nicht nur auf die Mannschaft bezogen, sondern ebenso auf die Wäscheberge, Geschirrhaufen und Spielsachen, die sich auf dem Boden türmen.

Jetzt wird mir klar, warum Gina dringend Hilfe gesucht hat, denke ich, als ich in das Zimmer gehe, das für die nächsten 2 Wochen mein Zuhause ist. Puu. Erstmal durchatmen, ankommen und Rucksack ablegen. Umgucken. Ersten Eindruck verschaffen. Es riecht ein bisschen nach vollen Windeln, vermischt mit Spaghetti Bolognese, welche, dem Geruch nach zu urteilen, gerade auf dem Herd anbrennen. Ein Kind schreit, jemand spielt Ukulele und jemand Anderes diskutiert über die politische Situation in den States. Mein Kopf rauscht. Ich bin müde. Meine Augen fallen zu. Doch in dem Moment holt mich eine schüchterne Stimme zurück in die Realität: „VERENAAA, schläfst du?“ Ähh nein, ich tue nur so, denke ich. Sagen tue ich aber: „Nein, alles fein, bist du Jani?“ Jani ist das deutsche Mädchen mit dem ich mir ein Zimmer teile. Sie fragt mit zögerlicher Stimme ob ich Lust habe, mit ihr und den 2 Mädels aus den States zu einem Wasserfall zu fahren und von einem 10-Meter Felsen zu springen.

Jetzt? Es ist fast 23 Uhr Abends, erwidert die Vernünftige. Doch die Abenteurerin fackelt nicht lange, wirft sich in den Bikini und 5 Minuten später sitzen 4 Traveller zusammen in einem alten Ford Fiesta und machen sich auf in die Nacht. Es kommt mir vor wie eine Parallelwelt. Um 23 Uhr abends nochmal los, mal eben in den Dschungel und von einem 10-Meter Felsen springen. Um 23 Uhr abends wäre die Verena, wie ich sie kenne, nicht in das Auto gestiegen, hätte sich nicht getraut auf den Felsen zu klettern und hätte dabei etwa Unglaubliches verpasst: Nämlich den Sternenhimmel, der sich über uns ausbreitet wie eine riesengroße Decke. Die Planeten scheinen zum Greifen nah zu sein. Ich hebe meine Hand. Drauf und dran einen Stern einzufangen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich sehe andere, neue Sternenbilder. Das Sternbild des Oreon steht hier zum Beispiel auf dem Kopf. Außerdem sehe ich das Southern Cross – das Kreuz des Südens, welche das bekannteste Sternenbild des Südens ist. Dies ist so bekannt, dass es das Sternbild auf die Flaggen von Australien, Neuseeland, Brasilien, Papua-Neuguinea und Samoa geschafft hat.

Mir fehlen immer noch die Worte, als Laura, das Mädchen aus South Carolina, schreiend losrennt und klaaaatsch, sie landet im Wasser. Ich gucke herunter: Beleuchtet vom Himmel sehe ich eine türkisfarbene Lagune, inmitten von Palmen, wilden Büschen und Blumen. Ich schmecke das Abenteuer auf meiner Zungen und fackel nicht lange. ICH KOMMEEEE, hört es die Vernünftige aus dem Mund der Abenteurerin hallen und ich springe. Für einen kurzen Moment fliege ich. 1, 2, 3, 4. Ich falle. Klatsch. Ich pralle auf das Wasser auf. Die Sterne leuchten mir den Weg nach oben, auf die Wasseroberfläche. Ich hole Luft. Atme.

5 Minuten später sitzen wir Vier zusammen auf einer Decke, mit einer Flasche Wein und gucken in den Himmel. Wir reden über dies und das. Es ist schon komisch, aber den Menschen, denen ich auf Reisen begegne, öffne ich mich viel schneller. Ich vertraue ihnen Dinge an, die ich Zuhause eventuell nicht mal meiner besten Freundin erzählen würde. „Warum ist das so?“, frage ich in die Runde. „Das hier ist eine Extremsituation. Du bist auf andere Menschen angewiesen, weil sie die Einzigen sind, die du hier hast. Und so kommt es, dass du schnell Vertrauen aufbaust, und enge Bindungen entstehen können.“ Das ist ein Geschenk, denke ich. Und es stimmt. Am Anfang hat es mich Überwindung gekostet, fremde Leute im Hostel anzureden. Überwindung. Auch so eine Sache. Du überwindest dich beim alleine reisen alle 5 Minuten wegen irgendwas. Sei es das erste Mal fremde Leute anzureden, das erste Mal alleine trampen, das erste Mal vollkommen alleine und auf sich gestellt von A nach B zu reisen. Jani reißt mich aus meinen Gedanken: “Warum bist du hier? Warum bist du ans andere Ende der Welt gereist?“

Warum mache ich das nochmal?

In meinem Ohr beginnt ein Rauschen.

 

Flashback. Es ist ein kalter, verregneter und mit düsteren Wolken verhangener Morgen Im Dezember. Ein Tag vor Weihnachten. Genauso düster wie die Wolken ist auch das, was gerade hier in diesem Raum ist. Er sitzt neben mir im Bett. Er nimmt meine Hand. Ich fange an zu weinen. Denn wenn du alle Worte schon aufgebraucht hast, bleibt dir nichts mehr zu sagen. Und was bleibt, ist vielleicht noch ein bisschen Liebe. Aber vielleicht noch ein bisschen reicht nicht aus. Nach fast 4 Jahren geht eine Geschichte zweier Menschen zu Ende. Zweier Menschen, die dachten, sie wären anders. Anders als andere Paare, zwei kleine Teilchen, die zusammen etwas Großes ergeben. Wie dumm wir doch waren. Wie naiv. Denn genauso wie sich 2 Magneten anziehen, können sie sich auch abstoßen.

Und so beschließe ich einen Tag später, am 24. Dezember, etwas Verrücktes. Etwas so verrücktes und aufregendes, so dass ich, in der Sekunde, als ich es beschließe, ein unkontrolliertes Kribbeln in meinem Bauch fühle, das sich weiter zu meinem Herzen hochkribbelt, bis ich schließlich ein Kribbeln in meinen Mundwinkeln fühle und beginne zu grinsen. „Kind, was ist los, hast du einen Schlaganfall?“, fragt meine Mutter besorgt, zu der ich nach dem Liebesaus geflüchtet und mich die gestrigen 24 Stunden in ein Kokon eingehüllt von der Realität abgeschottet habe.

 

„Nein, Mama, mir geht es gut. Ich fahre nach Neuseeland.“

 

 

TO BE CONTINUED..

 

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